Das Schachern um die Regierung - Der Irak nach den Parlamentswahlen

Irakische Frau zeigt stolz ihren nach dem Wählen lila markierten Finger. Fotograf: DVIDSHUB. Dieses Bild steht unter einer Creative Commons-Lizenz.

17. Juni 2010
Layla Al-Zubaidi
Drei Monate nach den Parlamentswahlen berief Präsident Jalal Talabani am Montag, den 14. Juni 2010, die erste Sitzung des neuen irakischen Parlaments ein. Hoffnungen, dass diese eine neue Ära des nationalen Dialogs einläuten würde, sind jedoch verpufft. Denn noch immer steht eine Regierungsbildung in weiter Ferne. Die beiden Hauptgegner im Kampf um die politische Macht im Irak stehen sich unversöhnlich gegenüber, nachdem jeder den Wahlsieg zunächst für sich proklamiert hatte. Während sie erbittert um die parlamentarische Mehrheit schachern, bezahlt die Zivilbevölkerung den Preis des Zwists, denn das Ergebnis sind politische Stagnation und ein erneuter Anstieg der Gewalt.

Knapper Sieg für Allawi, aber keine Mehrheit

Das Ergebnis der Wahlen am 7. März 2010 führte zunächst zu einer Überraschung: Die „Iraqi National Movement“-Liste (kurz: Iraqiya), angeführt vom früheren Interim-Premierminister Iyad Allawi, ging mit 91 Sitzen als knapper Gewinner hervor und übertraf die “State of Law”- Liste des amtierenden Premiers Nuri al-Maliki mit zwei Sitzen. An dritter Stelle rangiert die schiitische „Iraqi National Alliance“, gefolgt vom Block der kurdischen Parteien.

Die Verfassung ist in der Frage der Regierungsbildung jedoch unklar. Allawi beruft sich darauf, dass die Verfassung das Recht auf Regierungsbildung dem „größten parlamentarischen Block“ zuspricht, und beansprucht es aufgrund des Wahlerfolgs für seine Liste. Maliki brachte jedoch vor, dass nicht die Liste mit den meisten Stimmen gemeint sei, sondern die größte Koalition im Parlament. Der Oberste Gerichtshof sprach ihm zwei Wochen nach den Wahlen im März Recht zu. Allawis Anhänger sind empört.

Die „Iraqi National Alliance“ (INA), Nachfolgerin des schiitischen Blocks „United Iraqi Alliance“ von dem sich Maliki im Jahr 2009 abgespalten hatte, erklärte sich plötzlich bereit, mit Maliki zu koalieren. Der radikale schiitische Kleriker Muqtada al-Sadr, eine zentrale Figur der INA, hatte sich zunächst geweigert mit der „State of Law“-Liste ein Bündnis einzugehen. Im Mai lenkte er schließlich doch ein, um zu verhindern, dass die „Iraqiya“ die Regierung bildet. Da Maliki die Sadristen in den vergangenen Jahren sogar militärisch bekämpft hatte, hatte Allawi jedoch auf die Unterstützung der Sadristen gesetzt.

Allawi ist es bis jetzt nicht gelungen, die für eine größere Koalition notwendigen Verbündeten für sich zu gewinnen. Diese beständen nur noch in den kurdischen Parteien. Da er sich aber nach wie vor gegen die kurdischen Kernforderungen sträubt, wie das Referendum zum umstrittenen Status der Stadt Kirkuk, hat er sich einen Nachteil gegenüber Maliki verschafft, der sich den Kurden gegenüber flexibler zeigt. Allawis Chancen, noch Premierminister zu werden, schwinden also zunehmend.

Kurdische Forderungen als Joker

Die als Block auftretenden kurdischen Parteien sind in der Frage der Regierungsbildung zunehmend gespalten. Mit ihren 57 Sitzen können sie den entscheidenden Ausschlag für die schiitische Koalition geben.

Maliki und Sadr waren davon ausgegangen, dass sie sich, indem sie den Kurden den Präsidentschaftsposten weiterhin garantierten, kurdischen Rückhalt sichern könnten. Aus den kurdischen Reihen wird jedoch inzwischen der Vorschlag laut, anstelle der Präsidentschaft das wichtigere Amt des Parlamentssprechers zu verlangen. Zudem wendet sich Massud Barzani, Präsident der Region Kurdistan, zumindest rhetorisch zunehmend von Maliki ab.  Es ist unklar, ob Barzani mit der Annäherung an Allawi versucht dem schiitischen Block mehr Zugeständnisse abzuringen, oder ob tatsächlich die Möglichkeit besteht, dass sich seine Kurdistan Democratic Party der „Iraqiya“ anschließt.

Die kurdischen Parteien werden jedenfalls ihre Kernforderungen, darunter das Kirkuk-Referendum und ein für die kurdische Region vorteilhaftes Ölgesetz, auf den Verhandlungstisch legen. Malikis Allianz ist inzwischen dazu übergegangen, die Kurden zu warnen, dass sie, sollten sie sich hinter die „Iraqiya“ stellen, ihre eigenen Interessen aufs Spiel setzen würden.

Die Gegner

Sowohl Maliki als auch Allawi scheinen vom Willen getrieben das Amt des Premiers zu behalten bzw. einzunehmen. Beide Anwärter sind jedoch höchst kontroverse Persönlichkeiten. Maliki, der nur mit wenig politischer Erfahrung in sein Amt gewählt wurde, gibt sich inzwischen die Aura des “starken Mannes”, der für die Durchsetzung von Recht und Ordnung unverzichtbar ist. Insbesondere im westlichen Ausland genießt er den Ruf als moderater schiitischer Politiker, der der Milizenherrschaft entschlossen entgegentritt und für Sicherheit sorgt. Aber auch unter Irakerinnen und Irakern, die der schiitisch dominierten Regierung ablehnend gegenüberstehen, gewann er mit seinem harten Vorgehen gegen die gefürchtete Mahdi-Armee von Muqtada al-Sadr mehr Glaubwürdigkeit. Die Konfrontation mit den Sadristen war ein Grund warum Maliki entschied, den schiitischen Block „United Iraqi Alliance“ zu verlassen, der seit den Wahlen von 2005 die Regierung dominierte. Der von Maliki 2009 gegründeten „State of Law“-Liste sind auch einige kleinere sunnitische Parteien beigetreten. Trotzdem fürchten viele Sunniten den Einfluss des Iran hinter Maliki, und seine Dawa-Partei steht in ihren Augen immer noch für eine im Kern „schiitische Machtagenda“. Diese sehen sie auch durch Malikis enge Beziehungen zur „Accountability and Justice Commission“ (AJC) bestätigt, die den von Paul Bremer, dem amerikanischen Übergangsverwalter, begonnenen und kontroversen Prozess der Debaathifizierung fortführt. Der hastige Auschluss von nahezu 500 Kandidaten im Vorlauf der Wahlen, denen die AJC Beziehungen zur inzwischen verbotenen Baath-Partei vorwarf, brachte die sunnitischen Wähler auf. Maliki und der AJC, der selbst Parlamentskandidaten stellt, wurde vorgeworfen, dass sie mit dem Ausschluss vor allem die Absicht verfolgten, Allawis Lager zu schwächen.

Allawi ist ebenfalls Schiit, steht aber anders als viele seiner schiitischen Konkurrenten für gesellschaftliche Modernisierung und die Trennung von Staat und Religion. Die „Iraqiya“-Liste hat damit Anhänger in allen konfessionellen Gruppen, die der ethno-konfessionellen Zersplitterung und Gewalt, sowie der zunehmenden Islamisierung des Alltagslebens müde sind. Sie besteht aber vor allem aus sunnitischen Parteien und wird besonders stark von der einst dominanten sunnitischen Minderheit getragen, die sich in den vergangenen Jahren zunehmend an den Rand gedrängt fühlte und den politischen Prozess lange boykottierte. Trotz der Unterstützung, die er in weiten Teilen der säkularen Mittelschichten und der Zivilgesellschaft genießt, hegt kaum einer die Illusion dass Allawi weniger als Maliki zur Autorität neigt. Vorgeworfen wird ihm zudem dass sich in seiner Anhängerschaft zahlreiche Baathisten tummeln, sowie seine Nähe zu den Amerikanern und der CIA aus den Zeiten seines Exils im Ausland und als Premierminister der ersten Übergangsregierung.

Fragile pan-schiitische Koalition

Auch dem Zweckbündnis der beiden schiitischen Blöcke, das sich nun „National Alliance“ nennt, fehlen noch vier Sitze, um die für ein Vertrauensvotum notwendige Mehrheit der 325 Parlamentssitze erreichen zu können. Seine Initiatoren müssen sich in der Zwischenzeit den Vorwurf gefallen lassen, mit ihren Manövern den Willen der Wählerschaft zu umschiffen. Zudem ist der Zusammenschluss durchaus fragil. Aufgrund der Ressentiments, die die Parteien der INA gegen die Person Malikis hegen, möchte ihn niemand, am allerwenigsten die Sadristen, erneut als Premier sehen. Maliki scheint jedoch fest entschlossen seinen Titel zu behalten. Das Schachern um das Amt geht also weiter.

Für die Vermittlung in dem Streit um den Premierministerkandidaten und andere Konflikte, gründete die „National Alliance“ am 10. Juni 2010 ein „Kommittee der weisen Männer“, dessen 14 Mitglieder beider Blöcke kontroverse Fragen im Konsens lösen müssen. Wird Konsens nicht erreicht, sollen schiitische religöse Autoritäten einberufen werden um die entgültige Entscheidung zu fällen. Diese Rolle wird voraussichtlich dem weithin respektierten Großayatollah Ali al-Sistani zufallen. Dieser gilt als moderat und ist für seine Distanz zu politischen Parteien bekannt. Gleichzeitig hat er sich jedoch schon mehrmals als „kingmaker“ betätigt. Auch Allawi hat Sistani in seinem Haus besucht. Da davon auszugehen ist, dass Sistani eher zur pan-schiitischen Koalition neigt, wird Allawi Hoffnungen auf eine direkte Unterstützung durch den Großayatollah allerdings aufgeben müssen.

Düstere Prognosen

Sowohl Maliki als auch Allawi setzen taktisch implizite Drohungen ein und spielen dadurch mit der Angst vor erneuter Gewalt. Bagdad ist bereits im Vorfeld der Wahlen wieder Schauplatz von massiven Explosionen geworden. Malikis öffentliche Verlautbarung nach den Wahlen, dass er Oberbefehlshaber der Armee sei, war eine wenig subtile Mahnung, dass er wenn nötig auch bereit sei sich mit Gewalt durchzusetzen. Allawi, der seine Felle davon schwimmen sieht, prognostiziert dass der Irak in den ethno-konfessionellen Krieg zurück schlittern wird, sollte sein Block nicht an der Macht beteiligt werden. Dass zwei Kandidaten der „Iraqiya“ bereits Opfer gezielter Anschläge geworden sind, ist ihm ein Zeichen dass die Liste um jeden Preis ausgeschlossen werden soll. Auch gibt der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen bekannt, dass die im Jahr 2009 stark gefallenen Flüchtlingszahlen seit den Wahlen wieder ansteigen.

Auch wenn davon auszugehen ist, dass keine der Seiten Interesse daran hat, den brutalen Krieg wieder heraufzubeschwören, der im Land tobte, zehntausenden Irakern das Leben kostete und Millionen in die Flucht trieb, besteht Grund zur Beunruhigung. Offensichtlich sind weder Maliki noch Allawi bereit die notwendigen Kompromisse einzugehen um eine breit gestützte Regierung bilden zu können. Eine Regierung die in den Augen der Iraker Glaubwürdigkeit genießt, wäre aber notwendig, um nach dem Alptraum der vergangenen Jahre  und Jahrzehnte eine politische Kultur zu schaffen, die den Boden für demokratische und rechtsstaatliche Prozesse bereiten kann.

Wahlen als Wegbereiter der Demokratie?

Fazit ist auch, dass der Umgang mit Wahlen, obschon diese für die demokratische Entscheidungsfindung unerlässlich sind, im Irak seit dem Fall des Regimes im Jahr 2003 den Machtkampf um Partikularinteressen und undemokratische Trends eher noch verstärkt hat. Politische Beobachter warnen seit langem, dass die Gefahr gewaltsamer Austragung politischer Dispute im Irak weiter bestehen bleibt, werden diese nicht auf lange Sicht gelöst. Tatsächlich ist es fatal, dass die politischen Akteure trotz der katastrophalen Folgen des ethno-konfessionellen Machtkampfs in den vergangegen Jahren immer noch auf politische Arrangements zu setzen scheinen, die wichtige Interessensgruppen ausschließen. Besonders hart trifft dies aber die kleineren Minderheiten wie Christen, Jeziden, Shabak und andere, die in den vergangenen Jahren Opfer zahlreicher Angriffe wurden und deren Belange zwischen den großen Blöcken völlig zerrieben werden. Für Nicht-Muslime sind laut Quote im Parlament nur 14 Sitze vorgesehen.

Nicht zuletzt haben die Wahlen kaum dazu beigetragen, die Einflussnahme der um regionale Hegemonie konkurrierenden Nachbarländer zu mindern. Während Iran den schiitischen Parteien Rückendeckung garantiert und in der pan-schiitischen Koalition vermittelt, genoss Allawi einen warmen Empfang in Saudi-Arabien. Interessant zu beobachten wird sein, wie sich die wandelnden Beziehungen der verschiedenen irakischen Lager mit der Türkei weiter entwickeln. In jedem Falle werden auch die regionalen Beziehungen des Irak weiterhin über Stabilität oder Instabilität mitentscheiden. Es wird delikate Aufgabe der irakischen Politik bleiben, diesen Einfluss auszubalancieren und gleichzeitig den Berg der Probleme des Landes zu bewältigen.

Vorbild für die arabische Welt? Der lange Weg zur Regierung

Die Aussicht, dass Wählerstimmen tatsächlich einen politischen Wechsel einleiten könnten, wurde von westlichen wie irakischen Medien als “vorbildhaft für die arabische Welt” bejubelt. Tatsächlich deutet die hohe Beteiligung unter Sunniten auf eine Veränderung im Wahlverhalten hin. Vor diesem Hintergrund stellt der von Maliki geäußerte Einwand, Allawi sei wegen seiner libanesischen Mutter eigentlich kein Iraker und daher nicht für politische Posten qualifiziert, einen fast verzweifelten Versuch dar, seinen Herausforderer aus dem Feld zu schlagen. Malikis Forderung aber, die Zählung landesweit zu wiederholen, und seine Weigerung die Niederlage anzuerkennen, ließen schließlich ernsthaft daran zweifeln, dass er seine persönlichen Machtinteressen dem demokratischen Prozess unterordnen würde.

Derzeit ist nicht abzusehen wie lange es noch zur Regierungsbildung dauern wird. Die erste Parlamentssitzung war nach zwanzig Minuten bereits beendet, ohne dass ein Präsident und Parlamentssprecher gewählt oder wichtige Fragen besprochen wurden. Zu viel Zeit sollten sich die irakischen Entscheidungsträger aber nicht lassen. Denn der wichtigste Test für die kommende Regierung wird letztendlich sein, ob sie in der Lage ist endlich die Lebensbedingungen der Iraker zu verbessern und ihnen Vertrauen in die staatlichen Institutionen zu geben. Dazu muss sich die Regierung konkrete Benchmarks setzen. Sicherheit,  Eindämmung der grassierenden Korruption, und die Versorgung der Bevölkerung mit Basisdienstleistungen wie Wasser und Strom, sind dabei die Mindestanforderungen.

Je länger sich der Prozess der Regierungsbildung hinzieht, und desto mehr er von persönlichen Grabenkämpfen bestimmt wird, desto stärker werden die ohnehin angeschlagenen Institutionen an Legimität verlieren. Ohne ernsthafte Versuche, den nationalen Dialog anzustoßen und bestehende ethno-konfessionelle Gräben zu überbrücken, werden auch politische Koalitionen letztendlich nicht zu einem Mehr an nationalem Konsens führen. Letzterer erscheint jedoch besonders dringend; nicht zuletzt zur Wegbereitung der für Ende August 2010 anstehenden Truppenreduzierung der Amerikaner. Diese erwarten die Iraker freudig und bangend zugleich.


Layla Al-Zubaidi ist Leiterin des Büros Mittlerer Osten der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut / Libanon


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